Latte Macchiato. Soziologie der kleinen Dinge by Tilman Allert

Latte Macchiato. Soziologie der kleinen Dinge by Tilman Allert

Autor:Tilman Allert [Allert, Tilman]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104032160
Herausgeber: FISCHER E-Books
veröffentlicht: 2015-08-19T16:00:00+00:00


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Sublimierter Streit

Die Idee der Interdisziplinarität stammt aus dem wissenschaftlichen Raum. Sie bezieht sich dort auf eine Selbstreflexion derjenigen, die den unvermeidlichen Weg der Spezialisierung und kognitiven Differenzierung gegangen sind, die sich im Horizont eines mühsam erstrittenen und stets fragilen Argumentationsraums nach fachspezifischen Standards, nach Konventionen der methodisch kontrollierten Problembehandlung eingerichtet haben, die dabei jedoch von einer Art Unbehagen erfasst sind, das eigene Instrumentarium der Erkenntnisbildung reiche irgendwie nicht aus. So entsteht Interdisziplinarität zunächst als Reaktion auf eine Insuffizienzerfahrung des eigenen Tuns, reflektiert die Begrenztheit der erworbenen Kompetenzen – die Maxime der Interdisziplinarität folgt einer Sehnsucht, einer Mischung aus ungebremster Neugier und Ernüchterung. Wo Wissenschaft betrieben wird, entsteht ein paradoxes und ambivalentes Gemisch aus Autonomieansprüchen einerseits und zugleich Kooperationswünschen andererseits. Wissenschaftspolitisch wird diese für das Binnenverhältnis der Disziplinen grundlegende Spannung verselbständigt zu einer schicken Maxime, nicht selten zu einer Organisationszumutung. Kein Projekt, kein Antrag, kein Vorhaben ohne irgendeine Anmerkung zur Interdisziplinarität, so stellt sich die Situation seit jeher in den Universitäten dar, zunehmend auch im Bereich künstlerischen Handelns, in Musik- und Kunsthochschulen. Häufig wird dabei die soziale Seite übersehen, die im Alltag den Beteiligten häufig genug das Leben schwermacht. Denn interdisziplinär zu arbeiten impliziert zunächst eine Handlungszumutung, ist Belastung, soziologisch ein Streit. Streiten unterliegt, jenseits der Hoffnung auf einen kognitiven Gewinn, einer sozialen Logik des spannungsreichen Austauschs, an dessen Beginn die Kompetenzabgabe steht. Darin, in der Abgabe und in dem sich Einlassen auf die Ungewissheit des Ausgangs, liegt das Geheimnis jeder Kooperation – im Bereich einer systematisch auf Kooperation angelegten Tätigkeit wie in den verschiedenen Sparten der künstlerischen Darbietung ist das ein alter Hut. Kooperation ist konstitutiv für das Künstlertum, in den performanzorientierten Disziplinen an Musikhochschulen ist die Handlungszumutung, die mit ihr verbunden ist, versteckt, stets schon sublimiert durch das, was die Komposition, Texte, Dramaturgie, Regie, Choreographie vorgeben.

Kooperation ist schon schwierig genug; wer Musik, Tanz, Schauspielerei studiert, hat sich auf diese Implikation längst eingestellt. Das gilt für die, die lernen, ebenso wie für die, die lehren. Noch die Selbstverliebtheit der Solokarriere weiß um den Abstimmungsbedarf, um das kooperative Arrangieren eines Resonanzraumes für die eigene Interpretation. Für diesen seit Jahrhunderten selbstverständlichen Alltag kooperativer Tätigkeiten im Bereich von Musik und darstellender Kunst sollten wir den Begriff Interdisziplinarität nicht verwenden – wer in einem Ensemble spielt, der kooperiert, und das ist eben schwierig.

Allerdings liefert die Handlungszumutung, die schon in jeder aufführungsbezogenen Kooperation schlummert, einen Hinweis auf die Komplexitäten, die entstehen, wenn Interdisziplinarität praktiziert wird. Man sieht sofort, es handelt sich um eine gesteigerte Form der Kooperation, intensiviert ist das soziale Problem der Kompetenzabgabe und der Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Vermögens. Mit Hilfe der Soziologie lassen sich einige Ausdrucksformen interdisziplinärer Arbeit gut unterscheiden. Vorangestellt sei dazu nicht mehr als die begriffliche Unterscheidung von Ideen, Motiven und Konstellationen.

Von der Ideen-Seite ist die Sache einfach, Begründungen für Interdisziplinarität gehen einem leicht von der Zunge. Mit ihr verbindet sich das Ziel der Komplexitätserhöhung in der Produktion und Rezeption ästhetischer Gebilde. Tanz, Musik, Schauspielerei, Ballett verlieren ihr angestammtes Herstellungs- und Darbietungsprivileg und tauchen, komplex kombiniert, nebeneinander auf, vermischen sich und provozieren Wahrnehmungsgewohnheiten des spartengewohnten Zuhörers bzw.



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